„Gib mir was, was ich wählen kann“

Langzeitarbeitslose Nichtwähler/innen sind wütend und enttäuscht. Sie fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. Sie sind es leid von der Politik ignoriert zu werden. Sie empfinden Wahlen als sinnlos, weil „die da oben ohnehin machen, was sie wollen“. Sie sind, auch wenn Sie nicht zur Wahl gehen, politisch interessiert, oft gut informiert und in ihren politischen Ansichten und Orientierungen differenziert. Sie wollen statt dem ewigen „Besser als nichts“, etwas Besseres. Sie wollen ein ganz normales Leben führen. Ihr Vertrauen in die Politik befindet sich auf dem Nullpunkt. Sie haben keine Illusionen, aber, und das ist eine wichtige Botschaft an Politik und Gesellschaft, sie haben die Tür noch nicht zugeschlagen. Das ist das Ergebnis der Studie „Gib mir was, was ich wählen kann“ – Demokratie ohne Langzeitarbeitslose? Die qualitative Studie schaut aus Sicht ausgegrenzter Menschen, also vom Rand der Gesellschaft, auf die aktuelle Demokratiekrise.
Menschen in prekären Lebenslagen gehen immer weniger wählen. Überdurchschnittlich hoch sind dabei Langzeitarbeitslose vertreten. Dies ist seit langem quantitativ gut erforscht. Über ihre Motive ist dagegen bisher wenig bekannt.
Hier setzt die Studie an. Sie greift auf die Methode des französischen Soziologen Pierre Bourdieu zurück, soziologische Interviews möglichst auf Augenhöhe zu führen: Die langzeitarbeitslosen Nichtwähler wurden darum von Langzeitarbeitslosen zu ihren Motiven befragt, die damit selbst zu Forschern wurden. Wissenschaftlich begleitet wurde das Projekt vom Soziologen Prof. Franz Schultheis von der Universität St. Gallen.




Bundestagswahl 2017. Prof. Franz Schultheis zur sozialen Frage
https://www.youtube.com/watch?v=e01hdoCuUp0

Warum diese Studie?

Seit langem weiß man, dass ärmere und langzeitarbeitslose Menschen seltener wählen. Dies ist durch zahlreiche Studien, etwa der Bertelsmann Stiftung belegt. In einer Untersuchung der Stadtviertel deutscher Großstädte ergab sich etwa folgendes Bild (Dabei repräsentiert jeder Punkt ein Stadtviertel): Quelle: Bertelsmann Stiftung
Je prekärer die Lebensverhältnisse in einem Stadtviertel oder Stimmbezirk, desto geringer ist die Wahlbeteiligung.[…]. Unsere Wahlergebnisse sind, gemessen an der Sozialstruktur der Wählerschaft, nicht mehr repräsentativ“, so der Wahlforscher Armin Schäfer.

Auch bei steigender Wahlbeteiligung zeigt sich eine soziale Spaltung. Langzeitarbeitslose und Menschen in prekären Lebenslagen lassen sich weniger mobilisieren als Menschen mit gutem oder sehr gutem Einkommen, so eine weitere Studie der Bertelsmann Stiftung zur Landtagswahl 2017 in Nordrhein-Westfalen.

Die Tatsache, dass so viele langzeitarbeitslose Menschen nicht mehr an Wahlen teilnehmen, hat die Initiatoren der Studie schockiert. Sie wollen die Motive dieser Menschen erforschen und darauf aufbauend Lösungen entwickeln.

Während es viele quantitative Studien zum Thema gibt, fehlt es an qualitativen Untersuchungen. Hier setzt die Studie „Gib mir was, was ich wählen kann." Demokratie ohne Langzeitarbeitslose? an. Die Initiatoren wollen Politikerinnen und Politiker mit den Ergebnissen konfrontieren, die Ergebnisse in die politische Diskussion bringen und Lösungsansätze diskutieren.

Methode und Durchführung

Bei der Durchführung orientiert sich die Studie am französischen Soziologen Pierre Bourdieu, der feststellte: „Einige der besten Interviews meiner Studie wurden von Nichtsoziologen geführt.“ Deswegen interviewten ehemals oder aktuell Langzeitarbeitslose die langzeitarbeitslosen Nichtwähler/innen. Dieses Gespräch auf Augenhöhe macht es den Interviewten leichter, offen über ihre Erfahrungen und Positionen zu sprechen. Die Interviewerinnen und Interviewer waren außerdem in die Erarbeitung des Interviewleitfadens und in den gesamten Forschungsprozess eingebunden.
66 Interviews wurden im ganzen Bundesgebiet geführt, 35 mit Frauen, 32 mit Männern im Alter von 25 bis zu 65 Jahren, das Durchschnittsalter war 46 Jahre.

44 Interviews flossen in die Auswertung mit ein, acht werden in der Studie in gekürzter Form wiedergegeben und mit einer soziologischen Rahmung versehen. Die Rahmungen wurden jeweils von einem Mitarbeitenden der Denkfabrik, einem Wissenschaftler und dem Interviewer angefertigt.
Die Arbeit orientiert sich dabei am Diktum des Philosophen Spinoza: „Nicht belächeln, nicht bemitleiden, sondern verstehen.“

 

Ergebnisse der Studie "Gib mir was, was ich wählen kann"

Die Ergebnisse der Interviews lassen sich soziologisch in fünf „Grundmotiven für das Nicht-Wählen“ zusammenfassen:

1. Das „Nicht-Wählen“
zeigt sich als „Wahl“ eigener Art und als Botschaft an die Demokratie und ihre Institutionen und Akteure. Diese „aktive Wahl-Passivität“ hat die Botschaft: Das Vertrauen in die Politik fehlt.
Politiker „leben in ihrer eigenen Welt“.
„Warum soll ich das noch mit meiner Stimme legitimieren?“

2. Das „Nicht-zur-Wahl-Gehen“
ist Ausdruck eines verlorenen Glaubens an Sinn und Regeln der Demokratie. Viele fühlen sich von der Politik im Stich gelassen.
Die Politiker„[…] könnten [etwas tun], aber sie wollen nicht.“

3. Das „Nicht-Wählen“
ist Ausdruck eines Selbstverhältnisses sozialer Ausgrenzung, Stigmatisierung und Marginalität. Die Menschen fühlen sich ausgegrenzt und machen die Politik mitverantwortlich für diesen Zustand. Zudem fehlt die Kommunikation zwischen Politik und Langzeitarbeitslosen.
„Man ist ein Mensch zweiter Klasse.“

4. Das „Nicht-Wählen“
ist Ausdruck eines Gefühls der Zwecklosigkeit des Wählens, weil „die da oben“ ohnehin „machen, was sie wollen“. Zudem werden Versprechen, die vor der Wahl gemacht werden, nicht eingehalten.
„Gewählt ist gewählt, jetzt könnt ihr nichts mehr machen“.   

5. Das „Nicht-Wählen“
ist Ausdruck eines Gefühls, dass eigentlich gar nichts zu „wählen“ ist und alle Parteien gleich „korrupte“ Lobbies für die Mächtigen und Reichen sind. Es fehlt an „sozialer Gerechtigkeit“.



Grundbefindlichkeiten
Aus der Studie lassen sich folgende Grundbefindlichkeiten der Befragten lesen:

  • Gefühl der Ausgrenzung und des Abgehängtseins
  • Angst vor Abstieg und Angst vor dem Abbau von sozialen Sicherungen
  • Verschämte Armut
  • Gefühl massiver sozialer Ungerechtigkeit
  • Ausgeliefertsein an die bürokratischen Willkür
  • Gefühl Bürger zweiter Klasse zu sein
  • Desorientierung, Gefühl fehlender soziale Ordnung
  • Radikaler Vertrauensverlust in die gesellschaftlichen Institutionen
  • Rückzug und Konzentration auf die Privatsphäre

 

Forderungen an Politik und Gesellschaft

Die Mitarbeitenden der Denkfabrik haben 44 Interviews auf Forderungen und Apelle untersucht, die sich an die Politik und Gesellschaft richten. Sie sind hier verdichtet und zusammengefasst:
Hört uns zu, interessiert euch für unsere Lebenswelt und redet mit uns. Ignoriert uns nicht und setzt euch für uns ein.
Nehmt uns ernst mit unseren Problemen, Sorgen und Zukunftsängsten und behandelt uns respektvoll, so wie Menschen es verdienen.
Wir brauchen Unterstützung aber keine Belehrung, wie wir leben sollen. Erkennt unsere Leistung an.
Schafft mehr soziale Gerechtigkeit. Regiert nicht nur für die Wirtschaft und die Wohlhabenden.
Seid ehrlich und haltet Wahlkampfversprechen ein.
Wir wollen keine prekäre Arbeit, keine Zeitarbeitsverhältnisse, keinen Niedriglohn, keine geringfügige Beschäftigung und keine Aufstockung trotz Vollarbeit.
„Wir wünschen uns ein normales Leben.“

Statements zur Studie

„Wenn Langzeitarbeitslose mit Mitteln der Soziologie ihre eigene gesellschaftliche Lage und deren politische Implikationen kritisch erforschen, statt zum x-ten Male Objekt der Forschung zu sein, dann wird aus den viel beschworenen Ansprüchen auf „public sociology“ und „citizen science“ ernst.“
Prof. Franz Schultheis, Universität St. Gallen, Schweiz, wissenschaftliche Leitung

„Ich halte die Studie für bedeutsam, zeigt sie doch, wie wenig sich Langzeitarbeitslose von den etablierten Parteien vertreten fühlen. Die Automobilbranche, die Pharma- und Waffenindustrie und viele mehr haben in Berlin jeweils eine starke Lobby. Doch welche Partei setzt sich nachhaltig für die Interessen von Arbeitslosen ein? Ich sehe insoweit Handlungsbedarf."
Burkhard Lenk, Interviewer

„Wieder alle ins Boot zu ziehen, die "Abgehängten" nicht zu verlieren, das ist aus meiner Sicht eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Studie liefert interessante Ansätze.
Danke dafür."
Dunja Hayali, ZDF-Moderatorin

„Langzeitarbeitslosen eine Stimme zu geben, ist in der heutigen gesellschaftlichen Situation äußerst wichtig. Die Selektivität bei der politischen Partizipation nimmt immer weiter zu.
Das Konzept der Studie, in der  "Kommunikation auf Augenhöhe"  zentral ist, finde ich klasse. Die Interviews liefern wertvolle und ungefilterte Einblicke in das Leben von Menschen in prekären Lebenslagen.  Die Arbeit mit dem Team hat mir sehr viel Spaß gemacht. Ich konnte einiges lernen."
Jan Velimsky, wissenschaftlicher Mitarbeiter (Sozialwissenschaften, BA)

„Die Studie zeigt deutlich: Wer sich von der Politik nicht wahrgenommen fühlt, sieht auch keinen Grund, wählen zu gehen. Es ist höchste Zeit, dass die deutschen, aber auch die österreichischen Vertreter*innen der Arbeitsmarktpolitik die Lebensrealitäten von langzeitarbeitslosen Personen verstehen,  ihnen auf Augenhöhe begegnen, ihre Forderung nach einem „normalen Leben“ ernst nehmen und – am besten in Dialog mit den Betroffenen – Formen dauerhafter, existenzsichernder Beschäftigung schaffen."
Judith Pühringer, Geschäftsführerin von arbeit plus – Soziale Unternehmen Österreich

„Es ist in höchstem Grade alarmierend, wenn sich wichtige Gruppen aus den demokratischen Prozessen verabschieden. Wer ständig das Gefühl hat, dass sich die Politik nicht für ihn und seine Lebenswelt interessiert, fühlt sich  im Stich gelassen. Er verliert den Glauben an den Sinn und die Regeln der Demokratie. Das Nicht-Wählen ist eine Botschaft an die Gesellschaft, diese Menschen wahr- und auch ernst zu nehmen. Wir müssen uns aktiv um diese Menschen bemühen. Dazu  brauchen wir Politiker, die das Gespräch mit den Menschen suchen, damit diese das Gefühl haben, dazu zugehören und angehört zu werden. Das Feld dürfen wir nicht den Radikalisierern und Vereinfachern überlassen, die gerade in unsere Parlamente einrücken."
Ulrich Lilie, Diakonie-Präsident

Eine „Studie, die speziell die Langzeitarbeitslosen nicht nur adressiert, sondern bei der Methodik wurde versucht, ‚auf Augenhöhe‘ zu kommen, in dem die langzeitarbeitslosen Menschen von anderen Langzeitarbeitslosen interviewt wurden. Auch wenn die Studie aufzeigt, dass es die ‚Nicht-Wähler‘ nicht gibt und die Motive durchaus heterogen sind - es bleibt die Frage und die Aufgabe, wie man hier wieder eine stärkere Teilhabe - und das bedeutet immer auch eigene Beteiligung - hinbekommt. Die bisherigen Befunde eines weiteren Auseinanderlaufens zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ bei der realen Wahlbeteiligung stimmen pessimistisch. Dennoch und gerade deswegen: Die Suche nach Wegen, das aufzuhalten und möglichst umzukehren, wird von großer Bedeutung auch vor dem Hintergrund, dass es nicht nur zu einer Abwendung der Nicht-Wähler vom (partei)politischen System kommt, sondern auch zu einer Exklusion der Exkludierten aus dem Koordinatensystem derjenigen, die die Weichen stellen und die Entscheidungen treffen.“
Prof. Dr. Stefan Sell, Hochschule Koblenz

„Gib mir was, was ich wählen kann.“
Ein Buch, das „den Langzeitarbeitslosen, den Abgehängten, den Ausgegrenzten, den Benachteiligten, den Prekären, den Exkludierten und für die Wirtschaft Überflüssigen unserer Gesellschaft“ gewidmet ist – schon das ist eine Rarität.
Ein Buch, in dem die, um die es geht, die Zwangsverarmten, die Stummgemachten, die Ohnmächtigen und Entrechteten, selbst zu Wort kommen – auch das gibt es nicht oft.
Und wie sie hier zu Wort kommen! Wie gut und nachvollziehbar die angeblich „Bildungsfernen“ darlegen können, wie sie zu Nichtwähler*innen gemacht wurden. Man muss sie halt nur fragen und zu Wort kommen lassen …
Auch ich bin einige Mal nicht mehr zur Wahl gegangen. Es war, nachdem ich, aus alter Gewohnheit und mit zu wenig Zeit, mich gründlich zu informieren, 2004 „Rotgrün“ per Wahl zur Macht verholfen habe – eben jenen, die „Hartz IV“ zur Macht verholfen haben, dem ich dann, nach damals 40 Berufsjahren, krankheitsbedingt anheimfiel. Wie heißt es doch so schön? „Nur die dümmsten Kälber wählen ihre …“
In der Folge hatte auch ich das Gefühl, nicht mehr wählen zu können, weil ich keine Wahl hatte. Auch sonst keine Wahl hatte. Ich war auf ALG II angewiesen – ich hatte keine Wahl. Ich musste gegen falsche Bescheide ankämpfen und Sanktionsbescheide abwehren – ich hatte keine Wahl. Ich stand bei der Armentafel, am Restetisch der Nation – ich hatte keine Wahl. Ich musste zur sinnlosen Buchhaltungs-Fortbildung, ich konnte mich nicht verweigern. Aber ich konnte noch bestimmen, noch wählen, ob ich zur Wahl gehe oder mich verweigere. Auch ich habe mich verweigert.
Dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Armutsdiskussion. Es ist zu wünschen, dass die vielen Stimmen nicht nur gelesen werden, sondern auch gehört.
Bettina Kenter-Götte, Schauspielerin und Buchautorin

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Die Studie ist im Herbert von Halem Verlag, Köln erschienen:
Denkfabrik-Forum für Menschen am Rande, Sozialunternehmen NEUE ARBEIT gGmbH Stuttgart (Hrsg.)
„Gib mir was, was ich wählen kann.“
Demokratie ohne Langzeitarbeitslose?
Motive langzeitarbeitsloser Nichtwähler/innen
Köln, Herbert von Halem, 2017
ISBN (Print): 978-3-86962-293-8
ISBN (PDF): 978-3-86962-294-1
28 Euro
Die Studie auf der Homepage des Herbert von Halem-Verlags:
http://www.halem-verlag.de/gib-mir-was-was-ich-waehlen-kann-demokratie-ohne-langzeitarbeitslose/